Eine Kompetenzerweiterin kommt zu uns…
Wie Haltungen Einfluss nehmen auf unsere Handlungs- und Denkoptionen.
Diese Geschichte hat sich in ähnlicher Form in einer heilpädagogischen Schule ereignet. Neu kommt Simea in diese Schule. Sie kommt aus einer anderen Schule. Dort sei sie aufgrund ihres Verhaltens nicht mehr tragbar.
Sie kommt mit dem «Label» Systemsprengerin. Ihr Umgang mit Anforderungen ist noch wenig entwickelt. Ihre sozio-emotionale Entwicklung zeigt, dass es ihr schwerfällt, sich selbst zu regulieren. Dadurch ist es für sie eine Herausforderung mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen und den Kontakt entwicklungsorientiert zu halten.

In der Pause rempelt Simea eine Klassenkameradin an. Diese wird wütend und beschimpft sie. Simea rächt sich, in dem er seinen Klassenkameraden «dumme Sau» schimpft und auf dessen Kopf einschlägt. Nach der Pause erfährt die Lehrerin von diesem Streit. Welche Handlungsoptionen stehen ihr nun zur Verfügung?
Nach der Pause ruft die Lehrerin Simea zu sich und fragt sie, weshalb sie auf ihre Klassenkameradin eingeschlagen habe. Diese meint, die andere habe angefangen und sowieso «stichle» ihre Klassenkameradin immer gegen sie.
Wie die Haltung der Lehrerin Einfluss nimmt auf die Situation
Ein/e Lehrer*in hat in dieser Situation verschiedene Optionen zu handeln. Menschen verstehen die gleiche Situation unterschiedlich und ihnen stehen entsprechend unterschiedliche Handlungsoptionen zur Verfügung. Ein möglicher Einflussfaktor dafür ist die Haltung, welche diese Menschen in der Situation einnehmen.
Martin Permantier (Haltung entscheidet, 2019) beschreibt in seinem Buch ein Entwicklungsmodell, wie sich Haltungen entwickeln. Er definiert 6 Phasen, die wir in einem Entwicklungsprozess durchlaufen können:
Handlungsmuster:
Gewinnen wollen, sich durchsetzen, Zwang, Opferrolle, etc.
Lehrer*innenverhalten:
Sanktionieren und drohen, sich als Opfer fühlen.
Haltung:
«Simea muss sich meinen Vorgaben anpassen, sonst wird sie bestraft» oder «Simea
muss diese Schule verlassen»
Mögliche
Handlungsoptionen:
- Simea
darf nicht mehr in die Pause. - Simea
muss als Strafe den Rasen mähen. - Simea
muss auf eine andere Schule.
Handlungsmuster: Ich halte mich an die Regeln, ich möchte auf keinen Fall was falsch machen, das muss richtig sein, die Gemeinschaft ist wichtig, Beschwerdemodus
Lehrer*innenverhalten: Predigt und Anweisung
Haltung: «Jemand muss definieren, was wir in diesem Fall tun müssen. Am besten die Leitung oder ein Experte».
Mögliche Handlungsoptionen:
- Simea müssen die Regeln nochmals erklärt werden. Immer wenn sie eine verletzt, muss es Konsequenzen haben.
- Simea muss die Hausordnung abschreiben, damit die die Regeln besser kennt.
- Wenn Simea sich nicht konform verhält, muss sie aus dem Klassenzimmer.
Handlungsmuster: Effizienz, Lösungsorientierung, Prozesse definieren und Ziele einhalten
Lehrer*innenverhalten: Wissensvermittlung und Kontrolle
Haltung: «Wir machen einen Plan, alle müssen das miteinander durchziehen und wir definieren Ziele, die Simea erreichen muss»
Mögliche Handlungsoptionen:
- Es wird vereinbart, dass bei einer Regelverletzung von Simea, sie in einem anderen Zimmer arbeiten muss, damit die anderen nicht gestört werden.
- Die Schulsozialarbeiterin oder die Heilpädagogin brauchen mehr Stellenprozente, dass sie mehr Zeit für sie einsetzen können.
- Die Schulzeiten werden für Simea verkürzt, so hat sie nicht so viel Stress und die anderen werden weniger gestört.
Handlungsmuster: Mitdenken und mitgestalten sind im Zentrum, eigene Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer können gesehen und benannt werden, eigener Status ist bedeutsam, souveräner Auftritt ist wichtig
Lehrer*innenverhalten: Bestärken, Unterstützen
Haltung: «Für mich ist es wichtig, dass wir eine Lernumgebung schaffen, in dem sich Simea entwickeln kann»
Mögliche Handlungsoptionen:
- Es finden Gespräch mit Simea und im Team statt.
- Man tauscht gegenseitig die Einsichten zu den Entwicklungen bzw. Bewegungen im System aus.
- Es werden die Ressourcen der einzelnen Teamplayer miteinbezogen. Die Ziele für Simea werden so angepasst, dass sie wachsen und ihre Ressourcen einbringen kann.
Handlungsmuster:
Sich aufeinander einlassen, Empathie und Zugewandtheit, Werte stehen im Vordergrund, Jede/r braucht etwas Anderes, das was für sie/ihn förderlich ist. Die Ebene der Emotionen der einzelnen werden mit in die Gestaltung der Situation einbezogen.
Lehrer*innenverhalten: Emotionale Lernbegleitung, Lerncoaching
Haltung: «Schön, dass wir da sind, wie können wir die Situation gemeinsam gestalten und uns gemeinsam entwickeln, fachlich und menschlich? »
Mögliche Handlungsoptionen:
- Es wird ein gemeinsames Verständnis der Situation kreiert. Das ganze Team bringt sich dabei fachlich und emotional ein. Wir können alle voneinander lernen. Die Teammitglieder sind sich bewusst, dass die verschiedenen diskutierten Möglichkeiten in ihnen unterschiedliche Emotionen und Inkohärenzen auslösen.
- Miteinander werden Optionen in der Begleitung von Simea gesucht und für die verschiedenen Perspektiven der Teammitglieder werden gegenseitig Verständnis aufgebracht.
- Gemeinsam werden die Wirkungen der verschiedenen Impulse im System reflektiert und ein gemeinsames Verständnis der Situation kreiert.
Handlungsmuster: Wertschätzende Autonomie, der Sinn steht im Vordergrund, kreativer Austausch auf Augenhöhe. Eine «liebende» Zugewandtheit zu den anderen Menschen.
Lehrer*innenverhalten: Potentialentfaltung für Simea, sich selber und das Team, Entfaltungs- und Entwicklungsräume gestalten und das System und sich aus Distanz und gleichzeitig mittendrin erleben, Kollaboration und Co- Kreation ermöglichen. Die Menschen werden berührt auf der Ebene der Sache und des Netzwerkes und erleben ihre eigenen Bewegungen und deren Wirkung auf andere.
Haltung: «Wie kann ich uns als Team begleiten, dass wir einen positiven Entwicklungsraum für Simea gestalten und mit ihm wachsen können?»
Mögliche Handlungsoptionen:
- Es wird ein gemeinsames Verständnis der Situation kreiert. Das ganze Förderteam bringt sich dabei ein. Es wird transdisziplinär gearbeitet, so dass möglichst alle voneinander lernen können.
- Die einzelnen Menschen im System kennen ihre eigenen Bedürfnisse und ihren Eigenanteil an den Bewegungen im System. Man kennt voneinander die «Muster».
- Gemeinsam werden die Wirkungen der verschiedenen Impulse im System reflektiert und ein gemeinsames Verständnis der Situation kreiert. Dabei werden auch Wechselwirkungen zwischen Menschen auf der Fach-, der Selbst- und der Netzwerkebene miteinbezogen.
- Die Wirkung der einzelnen Menschen auf der Fach-, Selbst- und Netzwerkebene wird sicht-, erlebbar und besprechbar.
Neben den aufgeführten möglichen Handlungsoptionen zu einzelnen Phasen der Haltung, wird der Fokus auf die Wirkung der einzelnen Handlungsimpulse mit jeder weiteren Haltung bedeutsamer. Je erweiterter die Haltung, desto erweiterter das Verständnis der Bewegungen, welche die gesetzten Impulse zeigen.
Kinder, welche in einem System «Bewegungen» erzeugen, welchen wir so noch nicht begegnet sind oder deren Bewegungen andere Wege gehen, wenn wir unsere bekannten Impulse setzen, nehmen uns mit auf einen Weg, auf dem wir unsere Kompetenzen entwickeln und das System wandeln und erweitern können.
So wäre eine Bewegung des Systems vom Verständnis von Simea als Systemsprengerin hin zur Kompetenzerweitererin möglich…
November 2024 Katja Stalder Kaiser und Andreas Illenberger
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